Charakterstarker, aber teurer Retro-Schick: Kawasaki W800.
Charakterstarker, aber teurer Retro-Schick: Kawasaki W800. (© Kawasaki)
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Test Kawasaki W800: Ein teures kodawari
30.07.2020

kodawari – dieser Begriff umreißt im Japanischen, bezogen auf jegliche Handwerkskunst, so etwas wie die völlige Hingabe des Erbauers an sein Werk, sein Streben nach Perfektion. Dieses Motto will Kawasaki auch beim Bau seines Retro-Bikes W800 zur Wirkung gebracht haben. Ob’s gelang?

Die neoklassizistischen Bikes aus der W800-Serie sollen, so will es der Hersteller, aus jedem Rahmenwinkel, aus jeder Schweißnaht Authentizität und Detailtreue atmen, sollen dem Anwender das Gefühl vermitteln, eben ein echtes Motorrad der 60-er Jahre zu bewegen. Der Ersteindruck? Er stimmt schon mal. Genau wie ihre Schwestern W800 „Street“ und W800 „Cafe“ ist auch die W800 „ohne alles“, die wir testeten, auf den ersten Blick ein Bike, das mehr Retro als Neo verkörpert. Sie mutet an als ein Fahrzeug, das aus einer anderen, einer längst vergangenen Zeit übrig geblieben scheint. Als Überbleibsel aus einer Ära, die heute mit einem positiven Lebensgefühl konnotiert ist.

Der Auftritt: Schlichter Schick in „Metallic Dark Green“, der einzigen Farbe, in der man die Standardausführung der W800 ordern kann. Kunststoff in homöopathischer Dosierung, dafür viel solides, fein geschmiedetes Metall, reichlich polierter Chrom, dazu eine Konstruktionsweise, wie sie sich vielfach bewährt hat: Schwarz lackierte, runde Metallrohre rahmen in kompakter Doppelschleife ein luftgekühltes Aggregat. Gefedert wird konventionell via Telegabel und mit Federbeinen in Stereo. Im Zentrum thront, eingezwängt zwischen üppig ausgeformtem Kurbelgehäuse und Tropfentank, als Blickmagnet ein zweizylindriges, vielrippiges Haupt, das an der rechten Flanke von einer spektakulär in Hochglanz-Erz eingehausten Königswelle geadelt wird. Jene Königswelle, die heute als Ventiltrieb nahezu ausgestorben ist, verleiht der W800-Reihe dann auch eine veritable Sonderstellung im Reigen aktueller Vintage­Bikes. kodawari – hier spürt man, dass Kawasakis Ingenieure einen Weg wählten, der partout kein leichter war.

Gemacht zum Cruisen
Ein breiter, mittelhoher Lenker und ein sattsam beledertes Gestühl garantieren auch Großgewachsenen eine überaus entspannte, jedes Fahrgeschehen beherrschende Sitzposition. Und auch die simplen, auf das (regel-)technisch Notwendige reduzierten Armaturen sowie die beiden Analog-Messwerke für Drehzahl und Geschwindigkeit in zeitlosem Rund lassen keine Ablenkung von dem aufkommen, was bei der W800 Sache ist: Das gechillte Cruisen. Diesen Anspruch unterstreicht auch das 19-Zoll-Vorderrad, das die Standard-W800 von ihren 18-zölligen Schwestern unterscheidet: Es sorgt für einen kernsoliden Geradeauslauf. Engere, forciertere Kurvenschwünge aber mag diese Art des Räderwerks nur mit Nachdruck in Angriff zu nehmen – gerne auch unter expliziter Einforderung durch klare Lenkimpulse. Dieser sanfte Kurven-Unwille – nachgerade an der Vorderhand spürbar – mag aber auch an der etwas schwammig geratenen Erstbereifung liegen. Die nie überforderte Bremsanlage präsentierte sich im Test als effizient, souverän und gänzlich unaufgeregt.

Über jeden Zweifel erhaben ist indes der auf Flüssigkeitskühlung verzichtende, im Euro-4-Standard werkelnde Reihen-Twin der W800. Er schöpft aus seinen 773 Kubikzentimetern zwar nur die übersichtliche Ausbeute von 35 kW (48 PS), ist bei der Abgabe seines maximalen Drehmoments von 69 Nm bei 4.800 Touren auch nicht gerade der Allerdrehfreudigste – für seine Kerntugend aber, das Landstraßen-Wandern, ist das Aggregat vollauf gerüstet. Die beiden schnurgerade und weit nach hinten gezogenen Auspufftöpfe entwickeln eine überaus angenehme Geräuschkulisse und stellen so etwas wie die Chrom gewordene Antithese zur laufenden Lärmdebatte dar.

Unser Fazit:
Die W800-Baureihe von Kawasaki vermag die Nostalgiker unter uns Zweiradlern mindestens zu inspirieren, manchen gar formvollendet zu verführen. Das Fahrgefühl erweist sich in allen wesentlichen Kriterien als stimmig, die Leistungsausbeute des Triebwerks geht in Ordnung – vor allem weil man weiß, dass Krafterzeugung heute kaum schöner vonstatten gehen kann. Das große „Aber“ bei der W800 ist ihr Preis: 10.000 Euro sind – verglichen mit einschlägiger Konkurrenz von Royal Enfield (Interceptor 650) oder Moto Guzzi (V7 III) – deutlich zu viel fürs kodawari. Eine Bonneville T100 von Triumph bietet für annähernd gleiches Geld deutlich mehr.

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