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Royal Enfield Himalayan: Vernunft kann ganz schön Spaß machen
02.07.2018

Die Inder liefern mit ihrem Erstlingswerk im Enduro-Segment ein umfassend ausgestattetes, charakterstarkes Motorrad, das in seiner Preisklasse unerreicht ist. Eine reife Vorstellung.

Technikentwicklung folgt heute meist der Maxime „höher, schneller, weiter“. Übertragen auf den Motorradsektor heißt das: Immer mehr Power trifft auf immer weniger Gewicht trifft auf immer mehr elektronische Helferlein. Idealbild: Der hochpotente, jeden „Gegner“ niederringende Kraftsportler im ultrascharf gezeichneten Superleicht-Dress, der alles kann: Alltag, Urlaub, Eisdielen-Posing, Rennstrecke. Seit Jahren jedoch verzeichnet die Gegenwelt zu diesem „immer mehr, immer stärker“ steten Zulauf. Entwickler, die sich jenem Wettrüsten so weit es geht entziehen und sich vielmehr auf die Suche nach dem Kern des Motorradfahrens begeben, sind gefragt wie nie. Um eben jene Ur-Frage zu beantworten, die Ingenieure und Biker seit jeher umtreibt: Wie viel Motorrad braucht es tatsächlich, um eine vollwertige, ganzheitliche Zweirad-Erfahrung zu haben?

Funktion vor Show
Royal Enfield gehört in diese andere, leisere, bedächtigere Technik-Welt. Abseits aller Muskelspiele der großen, hippen Marktbeschicker mit ihren hochgezüchteten, bonbonbunten Sortimenten machen die Inder seit Jahrzehnten ihr Ding. Das ist in der Regel aus solidem Stahl geschmiedet, verzichtet auf nahezu jeden modischen Zierrat und genießt den Ruf, für einen langen Zeitraum überaus solide zu funktionieren und ganz einfach seinen Zweck zu erfüllen. Der da heißt: Anspringen, nicht schnell, aber weit fahren, gerne auch mal mehr transportieren, etwas aushalten, Mobilität in einer bewegten, manchmal chaotischen Welt sicherstellen. Klar: In Indien, dem Heimatmarkt des Herstellers, laufen die Dinge nicht wie hier, spielt das Zweirad eine gänzlich andere Rolle. Funktion, Robustheit, Tauglichkeit im harten Alltag stehen weit über jedem Spaßfaktor. Die hierzulande anhaltende Retro-Mania mit ihrer Rückbesinnung aufs Wesentliche wirft gerade ein mächtiges Schlaglicht auf die nutzwertorientierten Vernunft-Bikes aus Südasien. Und ließ bereits viele Schatten des Zweifels verblassen. In der Folge stiegen die Verkaufszahlen – und ermunterten wiederum die Inder, sich näher mit den Motorradbedürfnissen der Europäer zu beschäftigen, was gar in einem eigenen Entwicklungszentrum in Großbritannien gipfelte. Ein Ergebnis dieser „Annäherung“ im so entstandenen, neuen Motorrad-Dialog: Die Enduro „Himalayan“, die Ende 2016 mit großem Tamtam präsentiert wurde und inzwischen flächendeckend im europäischen Handel angekommen ist.

Spaß- und Nutzwert
Die Himalayan ist die erste Enduro im Programm von Royal Enfield, überhaupt das erste Motorrad aus der Fabrik des Herstellers im ostindischen Chennai, das nicht mehr dem reinen Nutzwert-Diktat zu gehorchen hat, sondern ganz bewusst jene Reizzonen ansprechen darf, die auch in der Freizeit, im Urlaub, eben wenn man viel Spaß hat, zu schwingen beginnen. Doch keine Sorge: Mit der Himalayan verlässt der Hersteller keineswegs den Weg seiner Mitte. Auch die Himalayan hat das, was eine echte Royal Enfield auszeichnet: Ein klassisches, zeitloses, schlichtes Design, das auf allzu reichlichen Kunststoffbehang verzichtet und stolz eine solide Technik zur Schau stellt, die Robustheit und Zuverlässigkeit signalisiert und Langlebigkeit über Höchstleistung stellt. Die Himalayan bleibt Arbeiter und taugt nur bedingt zum Poser.

Robustes Kraftwerk
Das fängt an beim neukonstruierten, 411 Kubik-Viertakt-Einzylinder. Der von einer elektronischen Einspritzung befeuerte, luftgekühlte Single ist alles andere als eine Drehorgel, bescheidet sich auf ein nutzbares Drehzahlband irgendwo zwischen 1.500 und 7.000 Umdrehungen, liefert dafür seine soliden 18 kW (24,5 PS) und 32 Nm aber über ein sehr exakt schaltendes, gut abgestimmtes Fünfganggetriebe ans Hinterrad. Das reicht zwar weder für allzu hohe Durchschnittsgeschwindigkeiten noch für die schnelle Autobahnhatz, befähigt das Bike aber zum ruhigen, souveränen Dahingleiten in jeder Topografie, ohne dass der Fahrer je das Gefühl bekommt, als rollende Schikane den Verkehrslauf der Zeit zu behindern. In leichtem Gelände hingegen glänzt der mit sonorem Klang ausatmende, niemals lärmige Single mit überaus sanfter Kraftentfaltung und unaufgeregter Performance. Das Aggregat braucht als Traktionskontrolle nichts als die Gashand, auf die es stets blitzsauber zu reagieren weiß. Bei allem, was sie im Test tat, gab sich die Himalayan mit deutlich unter drei Litern Verbrauch zufrieden – was im Verein mit dem verbauten 15-Liter-Stahltank für eine überaus ordentliche Reichweite sorgte. Hier macht sich das vernunftorientierte Engineering der Inder jedenfalls unmittelbar bezahlt.

Blitzsauber abgestimmt
Das ebenfalls gänzlich neu konstruierte Fahrwerk der „Indienduro“ ist jeder Aufgabe, die sich dem Bike im Kulturraum Deutschland üblicherweise stellt, voll gewachsen. Die Fahrwerkselemente – an der Vorderhand arbeitet eine nicht einstellbare 41-mm-Teleskopgabel, hinten ein über Hebel angelenktes, lediglich in der Vorspannung verstellbares Zentralfederbein – untermauerten auf jedem Untergrund ihre vortreffliche Werksabstimmung und steckten die Unzulänglichkeiten jedes auch noch so schlechten Asphaltbands in der Provinz mühelos weg. Zum sehr guten Fahreindruck trugen die ab Werk montierten Pirellis des Typs MT 60 bei, die – vorne in der Dimension 90/90-21, hinten als 120/90-17 aufgezogen – auf trockenem Untergrund, losem wie asphaltiertem, niemals Anlass zur Kritik gaben.

Komplettes Paket
Die Ausstattung der Fernost-Enduro kann sich indes sehen lassen. Für einen Verkaufspreis von deutlich unter 5.000 Euro erhält der Kunde ganz viel solides Motorrad, das sogar Features wie Stahlflex-Bremsleitungen, einen vollwertigen Gepäckträger und eine zweiteilige Sitzbank nicht auslässt. Die Bremsanlage, die auf Elemente des Brembo-Ablegers Bybre setzt, ist ausreichend dimensioniert, dürfte aber insbesondere an der Vorderhand gerne noch etwas giftiger zupacken. Das hinten wie vorne wirkende, in Euro 4-Zeiten vorgeschriebene ABS agiert unaufgeregt und zuverlässig. An dem nur von einem kleinen LCD-Feld unterbrochenen, ansonsten vollanalogen Cockpit gibt es nichts auszusetzen: Es liefert glasklare Info-Vollversorgung – Ganganzeige und Kompass inklusive. Sitzposition und die Ergonomie der Bedienteile stimmen und vermögen weder kleine noch große Fahrer abzuschrecken.

Unser Fazit:
Royal Enfield ist mit der Himalayan ein großer Wurf gelungen. Für unter 5.000 Euro gibt’s ganz viel erwachsenes, charakterstarkes Motorrad, ein lückenloses Setting, solide Handwerksarbeit. Vergleicht man das Konkurrenzangebot in dieser Preisklasse, ist die Himalayan gleichsam das Motorrad gewordene Alleinstellungsmerkmal. Wer ein Bike sucht, das gleichermaßen Spaß macht wie entschleunigt, kommt an der Himalayan nicht vorbei. Und als Alltagsfahrzeug passt die Himalayan geradezu perfekt.

Technische Daten (Herstellerangaben):

  • Luftgekühlter Einzylinder-Viertaktmotor, 411 cm³, 18 kW (24,5 PS) bei 6.500 U/min., 32,0 Nm bei 4.500 U/min.
  • Normverbrauch: ca. 3 Liter pro 100 Kilometer, Tankinhalt: 15 Liter.
  • Gewicht: 185 kg
  • Scheibenbremse vorne 300 mm mit 2-Kolben-Bremszange, Scheibenbremse hinten 240 mm, ABS
  • Farben: Snow (Weiß), Granite (Dunkelgrau).

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